In der Psychologie gibt es ein faszinierendes Phänomen, das zeigt, wie stark unsere Erwartungen das Verhalten anderer beeinflussen können: den Rosenthal-Effekt, auch bekannt als Pygmalion-Effekt. Er beschreibt, dass Menschen dazu neigen, sich so zu verhalten, wie es andere von ihnen erwarten – ganz gleich, ob diese Erwartungen realistisch sind oder nicht.
Warum unsere Erwartungen mehr bewirken, als wir denken
Der Effekt wurde erstmals vom amerikanischen Psychologen Robert Rosenthal gemeinsam mit Lenore Jacobson (1968) in einer berühmten Schulstudie beschrieben. Lehrkräfte wurden informiert, dass bestimmte Kinder überdurchschnittlich hohe intellektuelle Fähigkeiten hätten – obwohl diese Auswahl rein zufällig getroffen wurde. Ein Jahr später erzielten genau diese Kinder tatsächlich bessere schulische Leistungen. Der Grund: Die Lehrer*innen behandelten sie unbewusst anders – sie gaben mehr Aufmerksamkeit, ermutigten häufiger und zeigten mehr Geduld.
Dieses klassische Experiment gilt als eines der eindrucksvollsten Beispiele dafür, wie Erwartungen zu selbsterfüllenden Prophezeiungen werden können.
Der Rosenthal-Effekt in der Wirtschaftspsychologie
Auch in der Wirtschaftspsychologie spielt der Rosenthal-Effekt eine zentrale Rolle – besonders in Bereichen wie Führung, Personalentwicklung und Recruiting. Erwartungen beeinflussen, wie Führungskräfte mit Mitarbeitenden umgehen, welche Chancen sie bieten und wie sie Leistung bewerten.
1. Führung und Motivation
Wenn Führungskräfte ihren Mitarbeitenden Vertrauen und Kompetenz zutrauen, fördern sie damit unbewusst deren Leistung. Diese positive Erwartung zeigt sich in unterstützendem Verhalten, häufigerer Kommunikation und konstruktivem Feedback. Mitarbeitende spüren das – und beginnen, an sich selbst zu glauben. Studien zeigen, dass Teams, deren Führungskräfte hohe, aber realistische Erwartungen setzen, höhere Leistungsniveaus erreichen (Eden, 1990; McNatt, 2000).
2. Recruiting und Eignungsdiagnostik
Der Rosenthal-Effekt kann auch unbewusst zu Fehleinschätzungen im Recruiting führen. Schon kleine Signale – etwa Kleidung, Körpersprache oder Lebenslaufgestaltung – erzeugen Erwartungen, die dann die Bewertung im Vorstellungsgespräch beeinflussen. Diese Verzerrung lässt sich durch strukturierte Interviews, standardisierte Bewertungsskalen und Schulungen zur Bewusstmachung unbewusster Vorurteile (Unconscious Bias Training) verringern.
3. Performance Management
Im Leistungsmanagement wirkt der Rosenthal-Effekt ebenfalls stark: Wird einem Mitarbeitenden beispielsweise unterstellt, „nicht belastbar“ zu sein, erhält er womöglich weniger anspruchsvolle Projekte – was die anfängliche Annahme scheinbar bestätigt. Umgekehrt kann eine positive Erwartung zu mehr Verantwortung, Motivation und besseren Ergebnissen führen.
Wissenschaftliche Perspektive: Warum Erwartungen wirken
Aus psychologischer Sicht erklärt sich der Rosenthal-Effekt durch soziale Wahrnehmung und Kommunikation. Erwartungen beeinflussen,
- wie viel Aufmerksamkeit jemand bekommt,
- welche Rückmeldungen er erhält,
- wie Fehler bewertet werden,
- und welche Chancen zur Weiterentwicklung sich ergeben.
Neurowissenschaftliche Studien (z. B. Lieberman, 2013) zeigen, dass soziale Anerkennung im Gehirn ähnliche Aktivierungsmuster wie materielle Belohnung auslöst – das bedeutet: positive Erwartungen motivieren messbar auf biologischer Ebene.
So nutzen Sie den Rosenthal-Effekt im Unternehmensalltag
- Reflektieren Sie Ihre Erwartungen: Fragen Sie sich regelmäßig, ob Ihre Einschätzungen auf Daten oder auf Eindrücken beruhen.
- Kommunizieren Sie Potenzial: Zeigen Sie Mitarbeitenden, dass Sie an ihre Fähigkeiten glauben – ohne unrealistische Anforderungen zu stellen.
- Schaffen Sie faire Entwicklungsbedingungen: Gleiche Chancen für Feedback, Fortbildung und Verantwortung fördern langfristige Leistungssteigerung.
- Messen Sie objektiv: Verwenden Sie strukturierte Beurteilungssysteme, um Verzerrungen durch Erwartungen zu minimieren.
Fazit
Der Rosenthal-Effekt erinnert uns daran, dass unsere Erwartungen eine enorme psychologische Kraft besitzen. In der Wirtschaftspsychologie ist er ein Schlüsselfaktor für erfolgreiche Führung, motivierende Unternehmenskultur und faire Personalentscheidungen. Wer lernt, seine Erwartungen bewusst zu steuern, kann Leistung, Zufriedenheit und Zusammenarbeit nachhaltig verbessern – bei sich selbst und anderen.
Denn: Wer Potenzial sieht, fördert es. Wer Vertrauen schenkt, stärkt Leistung.
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